FKK vs. Nacktsein / kulturelle Ursachen des neuen Viktorianismus

Author: 588aef2093

14 August 2019

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Zuerst einmal gilt es zu unterscheiden zwischen (organisiertem) FKK, wozu sowohl die (v.a. westdeutschen) Vereine mit ihren per meterhohem Sichtschutz abgezäunten Geländen gehören, als auch die Nacktbadestrände, die sich heutzutage v.a., wenn überhaupt, oft nur noch durch entsprechende Bürgerinitiativen und Vereine erhalten können, ansonsten aber gerne der Kommerzialisierung der "Strandkultur" u.a. auch durch Gemeinden und private Eigner verdrängt werden, und dem allgemeinen "Nacktsein" im privaten und halböffentlichen (Schwimmbäder, Saunen, Fitnesstudio-Duschen...) Bereich.
Gerade bei den FKK-Vereinen ist der Mitgliederrückgang sicherlich nicht nur der allgemeinen neuen "Verklemmtheit" geschuldet, sondern vielmehr auch durch deren oft überladene, altbackene und z.T. unsinnige Satzungen und die allgemeine "Vereinsmeierei" (nicht umsonst sind "Dackelclub", "Männergesangsverein", "Kleingartenverein", etc. heute mit Spießigkeit und Altbackenheit assoziiert und finden auch kaum noch Nachwuchs) bedingt; teilweise gibt es sogar bei den alteingesessenen Gruppen einen "Bürgenzwang", als wolle man einer Freimaurerloge beitreten...

Die FKK-Strände hingegen leiden neben der bereits angesprochenen Kapitalisierungstendenz, die selbst mit zu betreiben aber oftmals im krassen Widerspruch zur eigenen, freiheitlichen und sozialen Idee steht, v.a. unter dem allgemeinen Rückgang an entsprechenden Touristenzahlen, v.a. im Inlandstourismus, schaffen es aber auch höchst selten selbst werbewirksam aufzutreten und z.B. entsprechende Klientel an ausländischen Gästen anzuziehen. Viel zu oft sind diese Strände ein "Geheimtip", eher unter der Hand bekanntgegeben und nicht aktiv beworben - was aber angesichts der erwünschten Rückgezogenheit und der Angst vor Spanner-Touristen auch berechtigt ist.

Ich persönlich würde es äußerst schade finden, wenn letztere verschwinden würden, zugunsten eines geschäftstüchtigen massentauglichen Kommerztourismus der "Textilen", während ich erstgenannte kaum vermissen würde.

Ein Grenzphänomen stellen aber die inoffiziellen, "wilden" "Nacktbadestellen" an Baggerseen u.ä. dar, die, ohne offiziell ausgeschildert zu sein, durch Mundpropaganda bekannt, und auch von den örtlichen Behörden bisher meist schlicht geduldet worden sind. Gerade diese verschwinden aber angesichts immer restriktiveren Umgangs seitens der Ordnungsämter zusehends. Wo bisher galt: "Erlaubt ist, was nicht explizit verboten ist." und "Wo kein Kläger, da kein Richter", hat sich heute eine perfide Form des Fremd-Echauffierens etabliert, wo sich zumeist im gesamten Auftreten schon recht spießige Zeitgenossen unter dem Deckmäntelchen des "Kinderschutzes" aufregen, dass die Jugend allein durch den Anblick von nackten Menschen ohne sexuelle Konnotation bereits verdorben würde und das zwingend zu unterbinden sei, was dann letztlich auch die Ordnungsbehörden, oftmals ohne eigene Motivation, zum Handeln und zur Aufrechterhaltung von Verboten zwingt.
Dies übrigens nicht nur hierzulande, sondern auch im ansonsten so vermeintlich prüden Amerika:
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(Kleine Anekdoten meinerseits (geht nicht ohne :o) :

- Die letzten Sommer habe ich es, wann immer ich mal wieder in der Gegend war, genossen an einem solchen "geheimen" Waldsee im Oberharz "hüllenlos" zu (sonnen-)baden. Die Örtlichkeit war fast immer gut besucht, meist Stammgäste und am Wochenende auch reichlich Familien mit Kindern. Das ganze abseits frequentierter Wanderwege und zusätzlich hinter einem hohen Damm vor unwillentlichen Blicken verborgen.
Da aber die Kurverwaltung in einer Broschüre anfing, mit dieser FKK-Möglichkeit öffentlich zu werben, fühlten sich bald auch einige jüngere Damen (namentlich aus der grünen Kreistagsfraktion) bemüßigt, gegen die "Nackedeis" zu wettern und angesichts des nur 1km entfernten "Familienbadeteichs" den "Kinder- und Jugendschutz" effektiv durchsetzen lassen zu müssen, was dazu führte, dass an einem heißen Sonntag-Nachmittag das Ordnungsamt samt Polizei dort eine "Razzia" durchführte und über 60 Anzeigen wegen Erregung "öffentlichen" Ärgernisses ausstellte und etliche Platzverweise ausstellte.

- Ich bin ein begeisterter Fan von "heißen Quellen" in freier Natur, wie sie gerade im östlichen Kalifornien noch recht zahlreich zu finden sind, ohne dass gleich eine Kuranlage oder ein kommerzieller Badebetrieb drumherum gebaut wurde. Was bei Besuchen dort aber immer wieder auffällt - und wovor in Internetforen auch immer wieder von einschlägiger Seite massiv gewarnt wird, bis hin zur Verteufelung - ist die dort fast immer anzutreffende "Hüllenlosigkeit" der Badenden. (Hippiekultur lässt in Resten grüßen.)
Nun beherzige ich schon den allgemeinen Rat, dass man auch dort in Anwesenheit Minderjähriger (bis 21!) sich nicht nackt entblößen sollte, aber gerade zu vorgerückter Stunde ist das dann doch etwas schizophren.
So habe ich denn auch bei meinem ersten Besuch vor vier Jahren gegen 22 Uhr die Badehose abgestreift und im warmen Wasser den Ausblick über die herrliche Landschaft genossen... bis plötzlich ein Mann in Uniform des Sheriff-Departments vor mir stand und mir das Herz in die (nicht mehr vorhandene) Hose rutschte.
Im Geiste schon die Handschellen klicken hörend, war meine Überraschung umso größer, als dieser dann frage, ob es mir was ausmache, das Wasserloch zu teilen, während er schon dabei war, sich sämtlicher Klamotten zu entledigen... (Anschließend unterhielten wir uns noch lange und am nächsten Tag zeigte er mir dann wirklich versteckte "dipping holes", die oft selbst den Einheimischen unbekannt waren.
Als ich nun letztes Jahr erneut dort war und angesichts verspäteter Anreise und früher Weiterfahrt gegen 5 Uhr in der Frühe die Gelegenheit nutzen wollte noch mal in das wohltuende Naß zu hüpfen, war ich dann doch sehr erschrocken und verwundert, dass plötzlich überall Schilder im Schein meiner Taschenlampe auftauchten, die ausdrücklich jedwede Nacktheit verboten und tatsächlich kurz vor Sonnenaufgang eine eher unfreundliche Polizeistreife mit Hunden und Taschenlampen Jagd auf "Nacktbader" machte - zum Glück, bevor ich die Hose unten hatte... so ändern sich die Zeiten und die Sitten...
Auch wird man heute kaum noch, nachdem die Stadtverordnungen diesbezüglich deutlich verschärft wurden und die Einhaltung strikt überwacht wird, in San Francisco noch die morgendlichen nackten (höchstens ne "Socke" über das Gemächt gezogen) Jogger auf der Market Street erblicken, nackte Passanten auf dem Weg zum Halloween-Spektakel im Castro (für die die Cops seinerzeit nur den Kommentar übrighatten, dass die sich doch bei der Kälte (frische 10°C) alles abfrieren würden) oder auch nur die nackten Sonnenanbeter auf der Great Meadow am Fort Mason...)

Was aber nochmal eine ganz andere Qualität in die Diskussion bringt, ist die zunehmende Prüderie bis hin zu viktorianisch anmutender Phobie vor der eigenen wie fremden Nacktheit, die scheinbar in starkem Kontrast zur zunehmenden Verfügbarkeit und werbewirksamer Präsenz von medialer Nacktheit bis hin zur Pornographie steht und inzwischen durchaus auch die bisher gewohnten persönlichen Freiheiten und Umgangsformen vergiftet.
So gibt es inzwischen quasi kein Schwimmbad mehr, dass noch FKK-Baden auch nur ein einem Abend in der Woche anbietet, so fällt das bisher eigentlich selbstverständliche Textilverbot in öffentlichen Saunen immer mehr der neuen "Moral" zum Opfer und inzwischen hängen in den ersten Sportstudios nicht mehr die Schilder, die aus hygienischen Gründen das Duschen in Unterhose verbieten, sondern vielmehr solche, die es erzwingen sollen.
Vorgeschoben wird auch hier meist der "Jugendschutz" - als wenn dort irgendetwas erspäht werden könnte, was unnatürlich, verderblich, verstörend wirken und die Entwicklung hemmen könnte -, da ja solche Einrichtungen auch von Menschen unter 18 Jahren besucht würden (worüber ich ohnehin gerade in Sportstudios manchmal nur den Kopf schütteln kann). Hinzu kommt aber immer mehr auch das Argument der "Toleranz" gegenüber religiösen Gruppen der Gesellschaft, die eben weder sich selbst (ihre "Aura") entblößen dürfen (die beim Mann vom Bauchnabel bis zu den Knien reicht), noch jemals dieses Gebiet bei einem anderen Mann erblicken dürfen, ohne sich alleine durch den Anblick zu beschmutzen. Davor gilt es dann halt nicht nur an vermeintlich öffentlichen Plätzen - wobei eigentlich bis auf wenige oben genannte Ausnahmen immer vor der möglichen Gefahr des Anblicks menschlicher Körper gewarnt wird -, sondern auch in den Duschen und Umkleiden der Republik zu schützen...

Diese Kombination aus amerikanischer, auf Puritanismus und viktorianischer Verklemmtheit basierender Prüderie und der religiös motivierten Scham religiöser Gruppen, Hand in Hand mit der zunehmenden Kommerzialisierung der Darstellung des (nackten) menschlichen Körpers führt zu einer neuen gesellschaftlichen Verklemmtheit und der (Re)Etablierung von Moralvorstellungen des 19. Jhds., die alle Errungenschaften einer freiheitlichen Gesellschaft und einer auch sexuellen Emanzipation, die von der Weimarer Republik über die 68er bis heute einen langen, steinigen Weg hinter sich hat, zu überrollen droht.

Und für alle, die hier mit dem Handy-Argument, dem heimlichen Filmen, dem "Spannen", etc. kommen, noch mal eine weitere Anekdote:
Als ich vor einiger Zeit während eines Aufenthalts in einem schwulen "clothing optional"-Resorts in Palm Springs von einem anderen dortigen Gast heimlich fotografiert wurde (dabei bin ich selbst bekleidet äußerst fotoscheu, da eher Marke "Blauwal" und nicht "Gazelle" oder "Gorilla"), was er mir abends im Jacuzzi eingestand, war ich zu aller Erstaunen gar nicht verärgert oder gar wütend. Da gibt es dann jetzt halt einen schwulen Frisör in West Hollywood, der sich auf Fotos von mir einen von der Palme wedelt... so what?! Ensteht mir dadurch irgendein Schaden? Nein.
Die Grenze wäre höchstens da zu ziehen, wo solche Bilder bewusst als Druckmittel veröffentlicht werden, z.B. gegenüber einem Arbeitgeber. Wobei auch da ein selbstbewusster Umgang mit und eine gesunde Beziehung zum eigenen nackten Körper so manches Problem von vornherein ausschließen dürften.
Scham ist halt keine angeborene Eigenschaft, sondern durch Sozialisierung und manchmal auch zu hinterfragende gesellschaftliche Konventionen und religiöse Regeln anerzogene, ja oktroyierte Reaktion. Eine Gesellschaft die sich entwickeln will und dabei die Freiheitsrechte des Individuums stärken, muss eben genau damit beginnen, solche Regeln auf ihren Sinngehalt zu prüfen und sich ggf. auch davon befreien. Stattdessen erleben wir derzeit aber eher das Gegenteil - eine zunehmende Regelverschärfung und Rückwendung zu längst überholt geglaubten Pseudomoralkonzepten.

Die angemessene Reaktion auf den Anblick eines nackten Menschen sollte nicht "Igitt!" sein, nicht "haram", sondern vielmehr "Och, schon mal gesehen. Laaangweilig...."


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