Irwisch: Über den Zivilisationsprozeß

Author: 588aef2093

31 August 2019

Views: 103

Telepolis: 1

Orthodoxe Psychoanalytiker halten sich mehr oder weniger strikt an die Lehren Sigmund Freuds, wonach der Mensch einen Todes- und Aggressionstrieb besitzen soll. Daß nicht erst die moderne Hirnforschung, sondern bereits Erich Fromm die menschliche Aggression ganz anders interpretierte, kümmert die orthodoxen Psychoanalytiker bis heute wenig, leistet dieser herbeifabulierte Todestrieb doch immer wieder gute Dienste bei der Rechtfertigung von Machtausübung und Herrschaft.

Die Aggression ansich stellt eine grundlegende menschliche wie auch tierische Reaktion auf Gefahr dar. Lebewesen verfügen grundsätzlich über drei Möglichkeiten, auf die Bedrohung ihrer Existenz zu reagieren:

1. Flucht
2. Angriff
3. Totstellen

Aggression ist damit der lebendige Ausdruck des natürlichen Überlebenswillens. Nach Fromm und vielen anderen Individualpsychologen unterscheidet man jedoch zwischen gutartiger und bösartiger Aggression: Erstere kommt dann zum Tragen, wenn ein Individuum seine ureigensten vitalen Interessen gegen Angriffe verteidigen muß, die bösartige Variante zeichnet sich dagegen durch pure Lust am Unterdrücken, an Gewaltanwendung, am Quälen, Schmerzen bereiten und am Töten aus.

Viele »modernere« Autoren tun aber gerade so, also ob die Frage, woher die menschliche Aggression stamme, vollständig geklärt sei. Sie bieten ihren Lesern nicht die Möglichkeit zu erkennen, daß über dieses weitläufige Thema diverse, sich oft widersprechende Auffassungen existieren. In der Vergangenheit seit der Aufklärung bis heute stellt die Frage, ob die menschliche Destruktivität (wie Fromm die bösartige Aggression bezeichnet) angeboren oder erlernt sei, ein regelrechtes Schlachtfeld dar, auf dem sich bis heute zwei Lager gegenüberstehen, die sich unerbittlich bekämpfen. Die sogenannten Instinktivisten behaupten, die menschliche Aggression sei in den Instinkten verwurzelt, wogegen die Milieu-Theoretiker der Überzeugung sind, die menschliche (bösartige) Aggression sei Folge der Lebensbedingungen, unter denen Menschen aufwachsen und bis zu ihrem Tod leben müssen. (Erich Fromm in Aggression und menschliche Destruktivität)

2

Der Artikelautor Konicz schreibt hier weitgehend über die bösartige Form der Aggression, auch wenn ich befürchten muß, daß ihm die oben beschriebene Unterscheidung nicht einmal ansatzweise bewußt ist. Er tut so, als gäbe es nur diese angeblich angeborene Aggression, die den Menschen quasi als mißlungenen evolutionären Versuch darstellt, dem das unweigerliche Aussterben bevorstehe – aus meiner Sicht eine weitverbreitete Selbstkasteiung und letztlich der Versuch, sich für die Auswüchse der bösartigen Aggression zu entschuldigen: »Tut mir leid, wir sind halt einfach so, wir können nicht anders.«

Diejenigen, die behaupten, diese angeblich angeborene Destruktivität kontrollieren zu können und zu wollen, sehen sich selbstverständlich davon befreit oder nicht betroffen – welche Anmaßung! Dabei steuern sie die Gesellschaften immer gerne dort hinein, wo sie sie angeblich heraushalten wollen: In die gegenseitige Konkurrenz, in die Spaltung, in medial vermittelte Feindbilder und letztlich in Kriege und Vernichtung – und das alles um des Profits willen, um der Anhäufung von immer mehr Geld und Macht.

Doch die Destruktivität in der Zivilisation besteht schon viel länger, als es Superreiche in der Neuzeit gibt. Sie entstand vermutlich mit der Seßhaftigkeit des Menschen, der zuvor weitgehend nomadisch von der Jagd und vom Sammeln lebte. Damals entstanden erstmals Besitzansprüche in nennenswerter Form auf Land, Güter und – Menschen. Die Sklaverei war in den letzten Jahrtausenden praktisch überall verbreitet, als Bürger mit Ansehen galten lange Zeit nur Menschen mit Grundbesitz. Man kann daher sagen, daß die heutigen Geldmächtigen dieses System nicht ersonnen haben, sondern wie alle anderen Menschen da hineingeboren wurden und es ihren Zwecken immer wieder ein wenig angepaßt haben.

Wenn Kinder auf die Welt kommen, sind sie in der Hauptsache erst einmal reines Gefühl, ganz so wie sie die neun Monate davor gelebt haben. Vom Denken und Rationalisieren sind sie in dieser Angangszeit noch weit entfernt. Nun werden Kinder aber in bestehende Gesellschaften hineingeboren und von ihren Eltern daher entsprechend abgerichtet, was man beschönigend als Erziehung bezeichnet, ganz so, als ob man irgendwo an den Kindern ziehen müsse, damit sie »richtig« wachsen. Kinder möchten von Anfang an einerseits wachsen und autonom werden, andererseits aber auch in Verbindung bleiben. Das wird ihnen durch die Sozialisation schwer gemacht, denn nicht alle Anteile des sich gerade zu entwickeln beginnenden Selbst werden von den Eltern anerkannt. So kommt es, das bereits Säuglinge wesentliche, aber unerwünschte Selbstanteile abzuspalten beginnen, je nachdem, wie empfindlich Mütter bzw. Eltern auf unerwünschte Äußerungen ihres Nachwuchses reagieren. Kinder spüren natürlich, daß sie nicht in ihrem ganzen Sein willkommen sind, und beginnen damit, Äußerungen, die bei den Eltern Mißmut hervorrufen, zu unterdrücken, weil sie Angst haben, sonst die lebensnotwendige Zuwendung zu verlieren. Die mit diesen unerwünschten Äußerungen in Zusammenhang stehenden Anteile des natürlichen Selbst müssen mit der Zeit nicht mehr unterdrückt werden, weil sie keinen Ausdruck im Bewußtsein des Kindes mehr finden und sich damit vom restlichen Selbst abspalten.

An diese Vorgänge, denen wir alle einst ausgesetzt waren, kann man sich gewöhnlich nicht erinnern, weil unserer Erinnerungsvermögen hauptsächlich auf Assoziationen beruht, die erst mit der Entwicklung der Rationalität, der symbolischen Verbindungen im Gehirn, entsteht. Geschehnisse, Erfahrungen usw., für die wir keine Worte haben, können wir in der Regel nicht erinnern, weil sie nicht auf der Landkarte in unserem Kopf verzeichnet sind. Manchmal erinnern wir uns dunkel an irgendwelche Szenen, wenn wir einen altbekannten Geruch wahrnehmen oder ein Lied hören, das Mami uns an der Wiege vorgesungen hat.

Die frühen Abspaltungen haben zur Folge, daß jeder Mensch eine unaussprechliche und allermeist unbewußte Wut darüber empfindet, daß er nicht vollständig er selbst sein kann und darf. Die abgespaltenen Selbstanteile werden mit der damaligen Angst vor dem Verlassenwerden – und das ist in diesem Alter die reinste Todesangst! – in Schach gehalten. Ganz dunkel und dem Bewußtsein ebenfalls weitgehend entzogen sind die Erfahrungen aus dieser frühen Zeit dennoch immer präsent, weil sie den ersten Selbstverrat darstellen, der zwar nicht wirklich freiwillig, aber doch von jedem Individuum gewissermaßen entschieden wurde. Es ist eine Art grundlegender Selbsthaß darüber, sich damals dem Unterdrücker angeschlossen zu haben.

Dieser Selbsthaß muß kompensiert werden, sonst wäre er unterträglich. Kompensieren heißt aber nicht beseitigen, sondern vielmehr auf irgend eine Weise ausgleichen, ein Gegengewicht zum Selbsthaß herzustellen. An dieser Stelle kommt der Narzißmus ins Spiel, eine künstliche Selbsterhöhung, ein ständiges fishing for compliments, eine täglich wiederkehrende Routine, sich gefällig zu verhalten und sich irgendwie liebenswert zu machen, um Anerkennung zu finden. Menschen lernen auf diese Weise, daß sie sich selbst erhöhen können, indem sie z.B. andere Menschen abwerten, oder indem sie sich auf die Suche nach Macht und Stärke begeben, nach Geld, nach gesellschaftlichen Positionen usw.

Man kann daher ohne weiteres sagen, daß diejenigen Menschen, die am meisten Geld und Macht (über andere) unter ihre Kontrolle bringen, am stärksten von den Auswirkungen ihrer frühen Konditionierungen betroffen sind. Sie haben es am nötigsten, andere zu kontrollieren, vor allem, weil sie so gut wie vollständig empathiebefreit sind. Empathie ist die Fähigkeit, sich gedanklich und emotional in andere Menschen hineinversetzen zu können, um so zu erleben, wie der andere sich fühlt, wie es ihm geht, was er will. Besitzt man diese Fähigkeit nicht bzw. durfte sie nicht entwickeln, muß man zwangsläufig vor allen anderen Menschen Angst haben, denn man weiß nie, was sie im Schilde führen. Da bleibt nur der Ausweg, Kontrolle über so viele Menschen wie nur möglich anzustreben, um dieser Angst Herr werden zu können. Geld ist da nur Mittel zum Zweck, es geht immer um Macht und Kontrolle.

Es gibt also nicht wirklich einen Destruktions- oder Todestrieb beim Menschen. Die Destruktionsneigung ist anerzogen, eingebleut, eingetrichtert, durch Drill, durch Konditionierung entstanden. Sie ist Folge grundlegender Entmutigungserfahrungen im zartesten Alter. Die Entwicklung eines Urvertrauens in die eigene Wahrnehmung und somit die Bildung einer eigenständigen Urteilsfähigkeit wird nachhaltig gestört, indem man schon die Säuglinge nicht in ihrem ganzen Wesen anerkennt, sondern bereits in den ersten Tagen danach strebt, sie zu drillen, damit sie nicht »verweichlichen«, damit sie Gehorsam lernen usw. Gehorsam ist aber nichts anderes als das Verwerfen der eigenen Bedürfnissse und Interessen zugunsten der Bedürfnisse und Interessen eines anderen. Die damit zwangsläufig verbundene Wut und die damit einhergenden Ohnmachtsgefühle müssen natürlich unterdrückt werden, damit der Gehorsam verlangende Mensch nicht mißtrauisch wird und die dargestellte Unterwerfung anzweifelt.

Moderne Säuglingsforschung und moderne Hirnforschung bestätigen weitgehend, daß der Mensch ansich kein bösartiges Wesen ist. Wir wollen von Anfang an wachsen, unabhängig werden und doch in Verbindung bleiben – scheinbare Widersprüche, die bei genauerem Hinsehen jedoch keine sind. Nur in sich autonom denkende und handelnde Menschen können sich gegenseitig auf Augenhöhe begegnen. Beziehungen, die auf einem wie auch immer gearteten Machtgefälle beruhen, zeigen immer einen gewissen zwanghaften Charakter, sie bestehen nicht ganz freiwillig, sind erzwungen, sind von Gehorsam und Unterordnung geprägt und erzeugen Leid.

3
4


Edit Code:

Please enter an edit code

Edit codes must be at least 20 characters

Share